Das Gewissen steht auf
Literatur über den Widerstand in der NS-Zeit
Zu den Schwerpunkten des Mosaik-Verlags gehören Publikationen über den Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Thema ist nicht nur ein persönliches Anliegen von Annedore Leber, sondern für sie auch ein Vermächtnis von politischer und gesellschaftlicher Bedeutung.
1946 widmet sie ein kleines Bändchen Den toten immer lebendigen Freunden in einer persönlichen „Erinnerung zum 20. Juli 1944“: „Über die Zusammenhänge … große politische Erklärungen abzugeben, liegt mir fern. Dieser Bericht ist nur der Versuch, aus der Anteilnahme an einem politischen Leben das zu schildern, was sich allmählich vor meinen Augen entwickelte. Deshalb ist der Ausgangspunkt meiner Betrachtung der Mann, den ich auf seinem Weg begleitete.“
Persönliche Eindrücke der ihr bekannten Männer des 20. Juli widmet Annedore Leber eine Seite im Spiegel , die ihr aus Anlass des 3. Jahrestages des Attentats 1947 zur Verfügung steht. Als Mitherausgeberin der Zeitung Telegraf ergreift sie auch dort 1947 und 1948 zu diesem Thema das Wort.
Dokumentarischer ist der Zeitschrift Mosaik 1948 zum 4. Jahrestag des 20. Juli unter dem Titel Vor vier Jahren erscheint. Dort kommt der englische Zeitzeuge George Bell zu Wort, der ausführlich seine Kontakte zum deutschen Widerstand schildert. Annedore Leber leitet mit wenigen Sätzen ein: „Für die deutsche Bevölkerung ist aber der Tag das Erinnerungszeichen, dass eine Geisteshaltung und der Gehalt einer aus dem Gewissen geborenen Tat nicht nach dem äußeren Erfolg oder Misserfolg abgeschätzt werden können.“
In Annedore Lebers Mosaik-Verlag erscheinen als erstes Buch 1952 die Schriften, Reden und Briefe ihres Mannes, die sie nicht selbst herausgibt. Im Epilog des Bandes Ein Mann geht seinen Weg wird das Gedenken an den Widerstand deutlich als eine politische Aufgabe formuliert: „Die neue deutsche Demokratie hätte sich, wenn manche ihrer Repräsentanten nicht von einem offensichtlich schlechten Gewissen verfolgt gewesen wären, eindeutig und unmissverständlich zum Widerstand und darum gerade auch zum 20. Juli bekennen müssen … So konnte es denn möglich werden, dass man in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg ungestraft die nazistischen Verbrechen des Vaterlandes rühmen konnte und ihre aktiven Widersacher schmähen durfte. Und gewisse Opportunisten raunten sich zu, es sei nun eben so, dass erfolgreiche Rebellen Helden würden, erfolglose jedoch Verräter.“ Mit diesem Resümee der ambivalenten Rezeption des Widerstands in den Nachkriegsjahren ist zugleich auch der Auftrag umrissen, der Annedore Lebers weitere publizistische Tätigkeit wesentlich bestimmt.
Zum wichtigen 10. Jahrestag des 20. Juli gibt sie in ihrem Verlag zusammen mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher den Band Das Gewissen steht auf heraus. Er enthält 64 biografische Skizzen von Widerstandskämpfern, die Annedore Leber als „Lebensbilder“ vorstellt. In sieben Kapiteln wird anhand von Biografien anschaulich geschildert, welche unterschiedlichen Motive die Widerstandshaltungen prägten. Gleichzeitig gelingt Annedore Leber mit ihrer Herangehensweise eine Würdigung der Einzelschicksale. Das Material für dieses Buch recherchiert sie selbst. Ausgangspunkt waren zunächst Fotografien von den Schauprozessen des Volkgerichtshofs im großen Saal des Kammergerichts am Kleistpark, die ihr zum Kauf angeboten worden waren: „…mich beschäftigte die Überlegung, für diese [Foto-] Dokumente der jüngsten deutschen Geschichte die Form eines Buches zu finden, das die innere Notwendigkeit eines Aufbegehrens gegen den Gewaltstaat allgemein verständlich macht. Darin sollte – als eine Kette des Widerstrebens und Widerstehens – jene tief menschliche Haltung sichtbar werden, die allen grausamen Mitteln des totalitären Staates zum Trotz Bestand behielt.“
Marion Gräfin Dönhoff nennt dieses Buch im Jahr des Erscheinens „eine der eindrucksvollsten Dokumente über den deutschen Widerstand“. Es gab bereits erste Darstellungen des Widerstands, jedoch kaum in der Breite, die Annedore Leber vorlegte. Neben Inge Scholls Bericht über ihre Geschwister in Die Weiße Rose von 1952 zählt Das Gewissen steht auf zu den prägendsten und wichtigsten Titeln zum Thema Widerstand in den 1950er-Jahren.
Der große Erfolg des Buches ermutigt Annedore Leber, 1957 einen weiteren Band herauszugeben und sich anhand von Einzelbiografien darin den unterschiedlichen sozialen Bereichen des deutschen Widerstands zu nähern. In Das Gewissen entscheidet ist der sozialdemokratische, gewerkschaftliche, kommunistische, bürgerliche, christliche und militärische Widerstand in kurzen Abrissen dargestellt. Annedore Leber will Ende der 1950er-Jahre damit deutlich machen, dass Widerstand zwar nicht häufig, aber dennoch in allen gesellschaftlichen Schichten vorhanden war: „Die Reihe der Bilder beginnt mit dem Gesicht eines unbekannten Märtyrers, hinter dem, wie im Nebel, die ausdruckslose Visage eines Volkgerichtshof-Polizisten auftaucht. Das unbekannte Gesicht – kaum mehr als ein individuelles menschliches Antlitz, sondern eher schon wie dessen Übersetzung von Künstlerhand für die Geschichte – ist wie ein Mahnmal …“, schreibt Marion Gräfin Dönhoff in ihrer Rezension.
Im selben Jahr erscheint eine Übersetzung des ersten Bands in englischer Sprache mit dem Titel The Conscience in Revolt in London. Beide Bücher wurden in Deutschland bis weit in die sechziger Jahre in immer neuen Auflagen weit verbreitet. Annedore Leber hatte ein Standardwerk verfasst, das auch über die Büchergilde Gutenberg in Lizenzausgaben weitere Leser erreichte. Nachdem in den 1970er-Jahren das Interesse abzuflauen begann, gab es zum 40-jährigen und zum 50-jährigen Jahrestag Neuerscheinungen in deutscher bzw. englischer Sprache.
Ausstellungstafel: Das Gewissen steht auf – Literatur über den Widerstand in der NS-Zeit (pdf, 254 kb – Zum Ausdrucken: Kürzere Fassung als dieser Text)
Literatur:
Annedore Leber: Den toten immer lebendigen Freunden. Eine Erinnerung zum 20. Juli 1944, Berlin: „Telegraf“ Druck u. Verlags-GmbH 1946
Annedore Leber: Männer des 20. Juli, in: Der Spiegel, 19. Juli 1947
Annedore Leber: Erinnerung und Besinnung. Zum 20. Juli, in: Telegraf, 20. Juli 1947
Annedore Leber: Juli 1944 – Juli 1948, in: Telegraf, 20. Juli 1948
Vor vier Jahren. Dokumentarische Aufzeichnungen und letzte Briefe zum 20. Juli, in: Mosaik, Juli/Augustheft 1948
Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Rede und Brief von Julius Leber, herausgegeben von seinen Freunden, Berlin-Schöneberg/Frankfurt am Main: Mosaik-Verlag 1952
Annedore Leber: Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand, 1933-1945, herausgegeben in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher, Berlin/Frankfurt am Main, 1954
(Neuauflagen: 1955, 1956, 1959, 1966)
Annedore Leber: Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstands von 1933-1945 in Lebensbildern, herausgegeben in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher, Berlin/Frankfurt am Main: Mosaik Verlag GmbH – Annedore Leber 1957
(Neuauflagen: 1958, 1959, 1960, 1962; Büchergilde Gutenberg: 1959, 1960, 1963)
Annedore Leber: Conscience in Revolt. Sixty-Four Stories of Resistance in Germany, 1933-45, herausgegeben mit Karl Dietrich Bracher und Willy Brandt, London: Vallentine Mitchel 1957
Annedore Leber: Das Gewissen steht auf. Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand, Mainz: v. Hase & Koehler 1984
The Conscience in Revolt. Portraits of the German Resistance, 1933- 1945. Collected and edited by Annedore Leber in Cooperation with Willy Brandt and Karl Dietrich Bracher, Mainz: v. Hase & Koehler / Boulder: Westview Press 1994