Tageszeitung im kalten Krieg
Annedore Leber und der Telegraf
Eine der beliebtesten und auflagenstärksten Tageszeitungen im Berlin der Nachkriegsjahre ist der SPD-nahe Telegraf. Lizenzträger und Herausgeber sind Annedore Leber, Paul Löbe und Arno Scholz. Am 22. März 1946 erscheint die erste Ausgabe.
Zeitungen benötigen nach dem Krieg eine Genehmigung der alliierten Militärverwaltung. Im britischen Sektor erhält Arno Scholz die Lizenz. Sozialdemokrat seit 1922, bedeutet die Machtergreifung der Nationalsozialisten für ihn Berufsverbot. Nach dem Krieg arbeitet er als Geschäftsführer der britischen Militärzeitung Der Berliner bevor er Herausgeber, Chefredakteur und Geschäftsführer des neuen Telegraf wird.
Am 24. April 1946 werden ihm als Lizenzträger und Mitherausgeber Annedore Leber und Paul Löbe zur Seite gestellt. Die Briten wollen unter der Lizenznehmern auch eine Frau. Und Annedore Lebers journalistische Fähigkeiten werden geschätzt. Die Witwe des Reichstagsabgeordneten Julius Leber war mit ihm gemeinsam am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligt. Nach dem Krieg leitet sie das Frauensekretariat der SPD und ist – wie Paul Löbe – im Zentralausschuss der Partei. Beide verlassen ihn, da sie gegen den Zusammenschluss von SPD und KPD zur SED im Ostsektor sind.
Paul Löbe war in der Weimarer Republik Reichstagspräsident bis ihn Hermann Göring 1932 aus dem Amt drängte. Von Juni bis Dezember 1933 inhaftierten ihn die Nationalsozialisten. Er hatte Verbindungen zu oppositionellen Kreisen und auch persönlichen Kontakt zu Julius und Annedore Leber. Beide sind nach dem Krieg als Demokraten politisch aktiv und engagieren sich in der SPD, ein wichtiges Kriterium für die Vergabe der Lizenz.
Der Telegraf ist zwar SPD-nah, aber kein Arbeiterblatt. Er richtet sich an alle Leserschichten. Umfragen zufolge entwickelt er sich 1947/48 zur beliebtesten Tageszeitung Berlins mit einer Auflage von ca. 500.000. Er wird nicht nur in der britischen Zone verkauft, sondern bis zur Berlin-Blockade in ganz Berlin, aber auch in Dresden, Leipzig oder Halle.
Die Redaktion und Druckerei hat ihren Sitz in der Babelsbergerstraße 40/41 in Berlin Wilmersdorf. Doch schon früh werden Räume in der Nachbarschaft angemietet. Die Zahl der Mitarbeiter der Telegraf-Verlagsgesellschaft stieg auf über 700 an. Am 6. September 1947 meldet der Telegraf: „Neues Verlagszentrum im Grunewald. Der Telegraf zieht um…“. 1 Das ehemalige Gebäude des Reichsarbeitsdienstes am Bismarckplatz in Berlin-Grunewald wird das neue „Telegraf-Haus“.
Der starke Rückgang der Auflagenzahlen und finanzielle Schwierigkeiten als Folge der Blockade, werden von den britischen Lizenzgebern aufgefangen, die den Telegraf finanziell und politisch unterstützen. Für sie ist er ein Instrument der publizistischen reeducation – mit dem Ziel der deutschen Bevölkerung Demokratie nahe zu bringen – als auch Waffe im kalten Krieg.
Im Sommer 1950 kann mit dem Telegraf am Sonntag an die Erfolge der Zeit vor der Blockade angeknüpft werden. Es gibt jetzt damit und mit dem Telegraf, dem Telegraf am Montag und dem Telegraf am Abend vier Blätter, die Leser jeden Tag der Woche zwei mal erreichen können. Der Telegraf gibt vor dem Mauerbau 1961 auch Tarnschriften, Flugblätter und eine kleinformatige Ausgabe Der kleine Telegraf heraus, die sich an die Leser der DDR richteten und unter der Hand im Osten verteilt werden.
Annedore Leber sieht beim der Tageszeitung die Chance „mitzuhelfen, daß sich Deutschland wieder zu einem Staat der Gerechtigkeit und Toleranz, der Nachsicht und Menschlichkeit entwickelt“. 2
Als Autorin veröffentlicht sie zahlreiche Artikel. Viele davon sind an Frauen gerichtet und sollen bei ihnen das Interesse an Politik wecken. Dazu beschreibt sie in einem Artikel am 11. Oktober 1946 ihren Weg von der Bürgertochter zur Sozialdemokratin. 3 Sie schreibt auch über die Situation von Frauen von Kriegsheimkehrern.
Ein weiteres Thema sind die zahlreichen Verschleppungen von Journalisten. Viele von ihnen, darunter auch Telegraf-Mitarbeiter, werden im Westteil der Stadt auf offener Straße gewaltsam in Autos gezerrt oder aus ihren Wohnungen entführt Im Ostsektor werden sie anschließend wegen „antisowjetischer Propaganda“ verurteilt. Annedore Leber mahnt in ihrem Artikel: „Berliner schützt euch selbst!“ 4
Als Herausgeberin der Tageszeitung hat sie wenig Einflussmöglichkeiten, da der Gesellschaftervertrag dem Hauptlizenzträger Scholz eine dominierende Rolle zuschreibt. Nach vergeblichen Änderungsversuchen und harten Auseinandersetzungen mit Scholz verlässt sie die Telegraf-Verlagsgesellschaft mbH am 1. Oktober 1950.
Mit der wachsenden Konkurrenz durch die Springerpresse und den Tagesspiegel verliert der Telegraf bereits in den 1950er-Jahren an Bedeutung und wird 1972 endgültig eingestellt.
Ausstellungstafel: Tageszeitung im kalten Krieg – Annedore Leber und der Telegraf
(pdf, 720 kb – Zum Ausdrucken: Kürzere Fassung als dieser Text)
Literatur:
Soweit keine anderen Quellen angegeben sind, beruhen die Informationen des Artikels auf:
Susanne Grebner: Der Telegraf. Entstehung einer SPD-nahen Lizenzzeitung in Berlin 1946 bis 1950, Münster: LIT-Verl. 2002 (Münster, Univ., Dissertation, 1999)
Fußnoten:
1 Neues Verlagszentrum im Grunewald. In. Telegraf Nr. 208 vom 6.9.1947, S. 6↩
2 siehe „Sozialdemokratische Frauen“. In: Die Freiheit vom 27.9.1948, S. 4↩
3 Annedore Leber: Tradition und Zukunft. In: Telegraf Nr. 157 vom 11.10.1946, S. 5↩
4 Annedore Leber: Berliner schützt euch selbst! In:Telegraf Nr. 78 vom 4.4.1948, S. 3↩