Die jüdische Publizistin Hilde Walter unterstützt Annedore Leber bei mehreren Buchprojekten. So steht ihr Name auch in „Doch das Zeugnis lebt fort“ im Inhaltsverzeichnis: Planungs- und Forschungsarbeiten Hilde Walter. In manchen Bibliografien zum Judentum wird sie sogar als Herausgeberin genannt. Schon 1954 ist sie beteiligt am ersten Buch Annedore Lebers zum Widerstand „Doch das Gewissen steht auf“.1
Hilde Walter wird am 4. März 1895 in Berlin geboren. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin, bevor sie Literatur- und Kunstgeschichte studiert. Sie ist Mitglied der SPD und engagiert sich im Frauenverband Soroptimist International. Nach dem ersten Weltkrieg schreibt sie als Journalistin für mehrere Tageszeitungen, auch für gewerkschaftliche Blätter. Oft zu den Themen Frauen im Berufsleben, Arbeitsrecht und Sozialpolitik. Ab 1927 dann für die Weltbühne von Carl von Ossietzky, wo sie auch in der Redaktion mit arbeitet. Eingestellt hat sie Kurt Tucholsky2. Mit bekannten Autoren wie Lion Feuchtwanger oder Ernst Toller gilt die Wochenzeitschrift mit ihren kleinen roten Heften als Forum der radikaldemokratischen bürgerlichen Linken. Sie wird im März 1933 nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten verboten. Ihr Herausgeber Ossietzky, Journalist und Pazifist, wird verhaftet.
Emigration nach Frankreich
Weil sie wegen ihrer jüdischen Herkunft bedroht ist und kaum noch als Journalistin arbeiten kann, flieht Hilde Walter im November 1933 nach Frankreich. Hier helfen ihre zahlreichen Kontakte, vor allem ihre „Soroptimist-Schwestern“, schnell Fuß zu fassen. Von Paris beginnt sie nach der Verhaftung von Ossietzky in Berlin eine internationale Kampagne, um den Inhaftierten für den Friedensnobelpreis zu nominieren und ihn so vor Gewaltanwendungen der Nationalsozialisten zu schützen. Hilde Walter spricht Willy Brandt an, der die Kampagne in Norwegen organisiert und mit dem sie während der gesamten Kampagne in engem Austausch ist.
Mit ihren wenigen Mitstreitern, wie Hellmut von Gerlach, ehemaliger politischer Leiter der Weltbühne und bekannter Pazifist, sowie die früheren Mitarbeiterinnen Ossietzkys Milly Zirker und Hedwig Hünicke gelingt es, einen breiten Kreis von Prominenten wie Albert Einstein, Ernst Toller, Thomas und Heinrich Mann zu gewinnen. Hilde Walter beweist dabei ein bemerkenswertes Organisationstalent, sie steuert die Kampagne, beschafft Geld dafür und initiiert den Kontakt zu Prominenten und zu einflussreichen Persönlichkeiten.
Ossietzky ist nach Gefangenschaft im Gefängnis Berlin Spandau und dem KZ Sonnenburg seit 1934 im KZ Esterwegen im Emsland interniert, wo zu der Zeit auch Julius Leber ist. Die Gefangenen sind den brutalen Übergriffen der Wachmannschaften ausgeliefert und müssen unter furchtbaren Bedingungen im umliegenden Moor arbeiten. Nach schweren Misshandlungen ist Ossietzky dem Tode nahe. Ein zitterndes, totenblasses Etwas, ein Wesen, das gefühllos zu sein schien, ein Auge verschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen, so beschreibt ihn der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt, dem es im Herbst 1935 gelingt als Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes, den Gefangenen im KZ Esterwegen zu treffen.3
Unter dem Einfluss der Kampagne wird Ossietzky kurz vor den olympischen Spielen in Moskau aus dem KZ entlassen und in ein Krankenhaus verlegt, wo ihn die Gestapo überwacht. 1936 erhält er den Friedensnobelpreis rückwirkend für das Jahr 1935. Ein großer Erfolg für den Freundeskreis um Hilde Walter und eine beachtliche Niederlage für das NS-Regime. Adolf Hitler tobt, niemals mehr sollte ein Deutscher einen Nobelpreis annehmen dürfen.4 Gegen den Willen des NS-Regimes und trotz des persönlichen Drängens Hermann Görings nimmt Ossietzky den Preis an, darf aber nicht ausreisen, um ihn entgegen zu nehmen. Er stirbt 1938 an den Folgen der KZ-Haft.
Flucht in die USA und Rückkehr nach Deutschland
Nach der Besetzung Frankreichs wird Hilde Walter 1940 in das Internierungslager Gurs eingewiesen. Von dort gelingt ihr eine abenteuerliche Flucht. Mit Hilfe des US-Amerikaners Varian Fry und seinem Rettungsnetzwerk in Marseille schafft sie es, zu Fuß die französisch-spanische Grenze in den Pyrenäen zu überqueren. Über Lissabon kann sie schließlich mit einem Notvisum in die USA einreisen.5 Hier arbeitet sie wieder als Journalistin und gründet eine Agentur für Exilautoren. 1952 kehrt sie nach Deutschland zurück und ist als Korrespondentin für den American Council of Germany, einer nichtstaatlichen Organisation für bessere Beziehungen zwischen USA und Deutschland, tätig. Und sie wirkt weiterhin als Publizistin, in Zeitungen und Zeitschriften.
Mit Annedore Leber arbeitet sie bei mehreren Buchprojekten zusammen, darunter die wichtigen Werke zum Widerstand: Das Gewissen steht auf und Das Gewissen entscheidet, an denen auch Willy Brandt beteiligt ist. Hier kann sie ihre vielfältigen Kontakte nutzen, wie ein Schreiben an Freunde in den USA belegt, die ihre Erinnerungen über Verbindungen von Menschen im Exil zum deutschen Widerstand teilen sollten. Darin bringt sie auch das Ziel von Annedore Lebers Veröffentlichungen zum Widerstand auf den Punkt: „..wie notwendig es in Deutschland ist, den Widerstand populär zu machen und lesbar darzustellen“6. Auch an Raimund Koplins Carl von Ossietzky als politischer Publizist, das auch in Annedore Lebers Verlag erscheint, ist sie beteiligt.
Für die Londoner „Wiener Library“ für Holocaust-Forschung schreibt sie 1959 einen Zeitzeugenbericht über die frühe NS-Zeit in Deutschland und die Jahre der Emigration in Paris7. An ihrem 70. Geburtstag, 1965 im Erscheinungsjahr von „Doch das Zeugnis lebt fort“ erhält sie das Bundesverdienstkreuz. Hilde Walter stirbt 1976 in West-Berlin.
In Erinnerung bleibt Hilde Walters sarkastische Aussage von 1968 „Es scheint, dass die Deutschen uns Auschwitz nie verzeihen werden.8
„Hilde Walter war nicht ehrgeizig und nicht eitel. Sie sprach die Wahrheit ungeachtet der Konsequenzen. Deshalb war sie manchmal harsch . Ihre Menschenkenntnis war hervorragend, besonders auch bei Politikern und Journalisten. In ihrem Kampf für eine bessere Welt folgte sie den höchsten Idealen“.9
Gabriele Tergit (Autorin)
Fußnoten:
1 Der Artikel beruht, wo nicht anders belegt, auf den Wikipedia-Eintrag https://de.wikipedia.org/wiki/Hilde_Walter_(Journalistin) (abgerufen am 4.3.2021) und den Briefen von Hilde Walter in der Sammlung „Freundeskreis Carl von Ossietzky“ beim IISG (international institute of social history) in Amsterdam. s. https://hdl.handle.net/10622/ARCH01448 (abgerufen am 2.3.2021)
2 Das schreibt Hilde Walter nach dem Freitod von Kurt Tucholsky in einem Brief vom17.1.1936 an Mimi Sverdrup-Lunden, .s. https://access.iisg.amsterdam/universalviewer/#?manifest=https://hdl.handle.net/10622/ARCH01448.25?locatt=view:manifest (abgerufen am 30.3.2021)
3 zitiert nach: https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Carl-von-Ossietzky-Ein-mutiger-Pazifist,carlvonossietzky100.html (abgerufen am 2.3.2021)
4. https://www.nobelprize.org/prizes/peace/1935/ossietzky/facts/ (abgerufen am 2.3.2021)
5 Bericht „Die Rettung“ von Hilde Walter. Institut für Zeitgeschichte Akz. 4537/71, Best. ZS 2031-64ff.
6 Schreiben Hilde Walter vom 29.3.1955 an G. und K. Reisner. In: exilOgraph Nr. 12, 2003
7 s. https://wiener.soutron.net/Portal/Default/en-GB/recordview/index/104779 (abgerufen am 30.3.2021)
8 zitiert nach: https://taz.de/Nationalsozialismus-in-deutschen-Serien/!5574813 (abgerufen am 4.3.2021). Das vollständige Zitat: „Es scheint, dass die Deutschen uns Auschwitz nie verzeihen werden. Das ist ihre Krankheit, und sie verlangen verzweifelt nach Heilung. Aber sie wollen sie leicht und schmerzlos. Sie lehnen es ab, sich unters Messer zu legen, das heißt: sich der Vergangenheit und ihrem Anteil daran zu stellen. Auch Zvi Rix, einem österreichisch-israelischem Arzt, wird das Zitat zugesprochen. S. Wikiquote (abgerufen am 7.11.2024)
9 GabrieleTergit in AJR (Information by the Assosciation of Jewish Refugees in Great Britain, Vol. 31, Nr. 7, Juli 1976, S. 12. Im Orginal: „Hilde Walter was neither ambitious nor vain. She spoke the truth, regardless of the consequences. Thus, sometimes she was rude. Her judgement of personalities, including politicians and joumalists, was superb. She was always guided by the highest possible principles in her struggle for a better world.“