Auf der Suche nach Vorbildern
Politische Literatur im Annedore Leber Verlag
Politische Bildung und demokratische Mündigkeit sind zentrale Anliegen Annedore Lebers nach den furchtbaren Erfahrungen des Nationalsozialismus. Sie will an „die positiven Strömungen in unserem Volk, die durch Terror und Propaganda nicht zu ersticken waren“ anknüpfen und fragt, „wer von den Menschen, die uns vorausgingen, uns Orientierung auf unserem weiteren Weg sein kann.“1
In der 1960er Jahren verlegt sie biografische Werke zu ausgewählten Politikern und Schriftstellern des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik.
Matthias Erzberger war Publizist und Politiker. 1906 deckte er die Kolonialskandale auf und war im Ersten Weltkrieg neben Karl Liebknecht der einzige Politiker, der öffentlich Deutschlands passive Haltung zum Völkermord an den Armeniern, zur Verfolgung der Griechen und zum Völkermord an den Aramäern durch den türkischen Verbündeten kritisierte. Als Leiter der Waffenstillstandskommission unterzeichnete er im November 1918 den Waffenstillstand von Compiègne, der die Kampfhandlungen des Ersten Weltkrieges beendete. Weil er auch die Annahme des Versailler Vertrags befürwortete, wurde er als Erfüllungspolitiker verunglimpft und 1921 von rechtsterroristischen Attentätern ermordet.2
Das Buch von Klaus Eptein wird 1959 von der Princeton University Press, Princeton, New Jersey, unter dem Titel „Matthias Erzberger and the Dilemma oder German Democracy“ veröffentlicht und 1962 ins Deutsche übertragen.
Carl von Ossietzky war ein parteilloser linker Publizist. Er veröffentlichte pazifistische und antimilitaristische Artikel in zahlreichen Zeitschriften, bevor er 1927 Herausgeber und Chefredakteur der Weltbühne wurde. Dort deckte er in einem Artikel die verbotene Aufrüstung der Reichswehr auf. Wegen Verrats militärischer Geheimnisse wurde er Ende 1931 zu Gefängnishaft verurteilt, die er von Mai bis Dezember 1932 verbüßte. Als engagierter Pazifist und Demokrat wurde er am 28. Februar 1933 durch die Nazis erneut verhaftet und durchlief ab April 1933 verschiedene Konzentrationslager, bis er im November 1936 schwerkrank und ausgezehrt aus der Haft entlassen wurde. Nach einer internationalen Kampagne erhielt er 1936 den Friedensnobelpreis. Am 4. Mai 1938 starb Ossietzky an den Folgen der Tuberkulose.3
Bei dem Buch von Raimund Koplin handelt es sich um seine Dissertation. Sie erscheint 1964 im Verlag Annedore Leber.
Walther Rathenau war Industrieller, Schriftsteller und Politiker. Für die Reichsregierung nahm er an der Versailler Friedenskonferenz und mehreren Folgekonferenzen teil und schloss Abkommen zur Regelung der deutschen Reparationszahlungen. Durch den Abschluß des Rapallovertrages versuchte er Europas Osten mit dem Westen zu verbinden. Sein politisches Konzept zielte darauf, Deutschland dauerhaft und kooperativ im Kreis der europäischen Demokratien zu verankern. Als „Erfüllungspolitiker“ gebrandmarkt, wurde er von nationalistischer und antisemitischer Seite heftig bekämpft und 1922 ermordet.4
Das von Margarete von Eynern herausgegebene und eingeleitete Buch „Walther Rathenau in Brief und Bild“ erscheint 1967 im Verlag Annedore Leber zum 100. Geburtstag von Walther Rathenau. Es enthält eine Auswahl seiner Briefe, einige Fotografien und 113 Kurzbiografien der Briefempfänger.
Für das Verlagsprojekt „Doch das Zeugnis lebt fort. Der jüdische Beitrag zu unserem Leben“ kann Annedore Leber zahlreiche Autoren gewinnen, die das jüdische Leben in Deutschland seit der Aufklärung schildern und sich den Bereichen Recht, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Pädagogik und den Künsten widmen. „Dieses Buch entstand in dem Gedanken, daß Wahrheit und Gerechtigkeit von uns fordern, den jüdischen Anteil an unserem Leben in Erinnerung zu rufen und bewußt zu machen, welche Werte dadurch unserem Volk, unserer Nation zuteil wurden. Die Darstellung erstreckt sich auf einen Zeitraum von über 100 Jahren, sie gilt Menschen mehrerer Generationen, einer deutschen Wirklichkeit, aus der eine Fülle von Zeugnissen vorliegt. Die Beispiele… sollen Bedeutung und Vielfalt der Leistungen aufzeigen“, so Annedore Leber im Geleitwort.5
Gustav Stresemann war Industrieller, Politiker und Staatsmann der Weimarer Republik. Den Ersten Weltkrieg betrachtete er als Kampf um die machtpolitische Gleichberechtigung des Deutschen Reiches und strebte hierzu deutliche Gebietsannexionen an. Innenpolitisch setzte er sich ab 1917 für Verfassungsreformen und eine Weiterentwicklung der staatlichen Sozialpolitik ein.6 „In nur dreieinhalb Jahren wandelte er sich vom Bewahrer der Monarchie zum Verteidiger der Republik. Die veränderte Haltung Stresemanns gegenüber der republikanischen Regierungsform ist nicht auf bloßen Opportunismus und persönlichen Ehrgeiz zurückzuführen, sondern gründet sich vielmehr auf seinen geschärften Wirklichkeitssinn, auf die Überzeugung, daß ein wirtschaftliches Wiedererstarken Deutschlands, die Wiederherstellung seiner nationalen Machtstellung und seiner Geltung nur im Rahmen des bestehenden Regierungssystems erreicht werden kann.“7
Die Originalausgabe des Buches wird 1963 von der Princeton University Press, Princeton, New Jersey, unter dem Titel „Stresemann and the Politics of the Weimar Republic“ veröffentlicht und 1968 ins Deutsche übertragen.
Bei dem ebenfalls 1968 verlegten Buch Gelebt und erlebt handelt es sich um die Autobiografie des 1897 geborenen dänischen Oberrabbiners von Kopenhagen Marcus Melchior. Er schildert seinen Lebensweg: Von der Kindheit in Dänemark, seinen Studienjahren in Berlin und Königsberg, seiner Tätigkeit als Rabbiner in Oberschlesien, als Schulleiter in Kopenhagen, der erneuten Rabbinertätigkeit in Oberschlesien, seiner Rückkehr nach Kopenhagen 1934 nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland bis zum Einmarsch der Deutschen in Dänemark im April 1940. Der Buchuntertitel „Die geglückte Symbiose von Dänen und Juden“ weißt auf die spektakuläre Rettung der dänischen Juden durch die von der dänischen Bevölkerung kollektiv und solidarisch organisierte Flucht über die Ostsee nach Schweden im Oktober 1943 hin. Auch die Familie Melchior gelangte auf diesem Weg nach Schweden. Melchior schreibt: „Es wird heute, gewiß zu Recht, angenommen, daß die Mehrheit des dänischen Volkes gerade durch diese Vorgänge zu einem wirklichen Freiheitskampf heranreifte. Es ist eine Tatsache, daß die Gruppen, denen die glückliche Flucht über den Sund zu verdanken ist, sich nun zu einem viel wirkungsvolleren Kampf zusammenschlossen, als man ihn bisher hatte durchführen können.“8
Der Verlag in München
Nach dem Tod Annedore Lebers am 28. Oktober 1968 wird der Verlag von ihrer Tochter Katharina Heinemann, geb. Leber weitergeführt und mit seinen Sitz nach München verlegt.9
1974 erscheint nochmals ein biografisches Werk, die sich in die beschriebene Reihe eingefügt. Oskar Maria Graf war Schriftsteller. Erste literarische Versuche unternahm er 1911 in der Gruppe um den sozialistischen Schriftsteller Erich Mühsam. 1914 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, 1916 wegen Befehlsverweigerung in eine Irrenanstalt eingewiesen und nach einem zehntätigen Hungerstreik aus dem Militärdienst entlassen. 1918 wurde Graf wegen Teilnahme am Munitionsarbeiterstreik kurzzeitig und 1919 wegen der Teilnahme an der revolutionären Bewegung in München erneut verhaftet. Am 17. Februar 1933 emigierte er nach Wien und wurde Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Da seine Bücher nicht der Bücherverbrennung durch die Nazis zum Opfer fielen, veröffentlichte er am 12. Mai 1933 den Aufruf: „Verbrennt mich! […] Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“10 Ein Jahr später wurden seine Bücher in einer eigens für ihn angesetzten Bücherverbrennung in der Münchener Universität nachträglich verbrannt und verboten.11 Er selbst wurde ausgebürgert.
Bei dem von Wolfgang Dietz und Helmut F. Pfanner herausgegebenen Buch handelt es sich um einen Gedenkband zum 80. Geburtstag Oskar Maria Grafs. Er enthält eine Zusammenstellung von charakteristischen Selbstzeugnissen und Texten Grafs sowie literaturwissenschaftliche Stichproben mehrerer Autoren zu seiner Person.
Ausstellungstafel: Auf der Suche nach Vorbildern – Politische Literatur im Annedore Leber Verlag
(pdf, 161 kb – Zum Ausdrucken: Kürzere Fassung als dieser Text)
Die vorgestellten Bücher:
Klaus Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Berlin-Frankfurt/Main: Verlag Annedore Leber 1962.
Raimond Koplin: Carl von Ossietzky als politischer Publizist. Berlin-Frankfurt/Main: Verlag Annedore Leber 1964.
Margarete von Eynern (Hrsg. und Einleitung): Walther Rathenau in Brief und Bild. Berlin-Frankfurt/Main: Verlag Annedore Leber 1967.
Franz Böhm, Annedore Leber, Margarete von Eyern u.a.: Doch das Zeugnis lebt fort. Der jüdische Beitrag zu unserem Leben. Berlin-Frankfurt/Main: Verlag Annedore Leber 1965.
Henry Ashby Turner Jr.: Stresemann – Republikaner aus Vernunft. Berlin-Frankfurt/Main: Verlag Annedore Leber 1968.
Marcus Melchior: Gelebt und erlebt. Die geglückte Symbiose zwischen Dänen und Juden, Berlin-Frankfurt/Main: Verlag Annedore Leber 1968.
Wolfgang Dietz, Helmut F. Pfanner (Hrsg.): Oskar Maria Graf. Beschreibung eines Volksschriftstellers, München: Verlag Annedore Leber 1974.
Fußnoten:
1 Annedore Leber, Freya Gräfin von Moltke: Für und wider. Entscheidungen in Deutschland 1918 – 1945. Berlin – Frankfurt/Main 1962. Einbandtext.↩
2 Zusammengestellt aus Wikipedia: Matthias Erzberger. https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Erzberger. 07.03.2017.↩
3 Zusammengestellt aus Wikipedia: Carl von Ossietzky. https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_von_Ossietzky. 07.03.2017.↩
4 Zusammengestellt aus Wikipedia: Walther Rathenau. https://de.wikipedia.org/wiki/Walther_Rathenau. 07.03.2017.↩
5 Vgl. Annedore Leber: Geleitwort. In: Autorenkollektiv: Doch das Zeugnis lebt fort. Der jüdische Beitrag zu unserem Leben. Berlin-Frankfurt/Main 1965. Seite 7.↩
6 Zusammengestellt aus GEO Themenlexikon, Band 19, Geschichte. Epochen, Menschen, Zeitenwenden. Mannheim 2007: Stresemann, Gustav. Seiten 1161-1162.↩
7 Vgl. Henry Ashby Turner Jr.: Stresemann – Republikaner aus Vernunft. Berlin – Frankfurt/Main 1968. Einbandklappentext.↩
8 Marcus Melchior: Gelebt und Erlebt. Die geglückte Symbiose zwischen Dänen und Juden. Berlin – Frankfurt/Main 1968, Seite 122.↩
9 Amtsgericht München, HRB 41007, Blatt 1.↩
10 Vgl. Wolfgang Dietz, Helmut F. Pfanner (Hrsg.): Oskar Maria Graf. Beschreibung eines Volksschriftstellers. München, Verlag Annedore Leber 1974. Seiten 37-38. Zuerst erschienen in der Wiener Arbeiterzeitung vom 12.05.1933.↩
11 Zusammengestellt aus Wikipedia: Oskar Maria Graf. https://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Maria_Graf. 07.03.2017.↩