Stichwort: Abkehr vom Marxismus
Leber zählte sich in der SPD zunächst zu den Linken, vertrat während der Diskussion um das Görlitzer Programm 1921 die Ansicht, dass zu einer „Abkehr von dem marxistischen Unterbau und von der auf Klassenkampf eingestellten Stimmung “ keinerlei Anlass bestehe, den Zusammenschluss mit der Rest-USPD wertete er als Stärkung der „Kampffront des Proletariats“.
Erstmals 1923 ging ihm auf, dass in seiner Partei zwar „riesenhafte und endlose Debatten über die Einrichtung einer Diktatur des Proletariats“ geführt, tatkräftige Politik aber nicht gemacht wurde. In seinem Kommentar zum Berliner Parteitag 1924 ging er noch einen Schritt weiter: Er bekannte, dass er die Idee des „unversöhnlichen Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat“ in ihrer dogmatischen Ausprägung nicht mehr zu teilen vermochte. Die „Verfechter des echten Klassenkampfes“ schienen ihm als die „Politiker des Nur- Gestern“, die nicht verstanden, dass „Wandlungen in der Zeit auch Wandlungen in der Sozialdemokratie“ verlangten.
Leber anerkannte nach wie vor in Marx den „großen Soziologen der menschlichen Gesellschaft seiner Zeit“, hielt aber den von Marx verfolgten Weg „von der Wissenschaft zur Politik“ für einen Irrweg. Marx‘ Ableitung von Entwicklungsgesetzen, die als absolut und unabwendbar in ihrem Ablauf propagiert wurden, stellte für Leber „alle Wirklichkeit unter den unbedingten Zwang“.
Leber stellte mit seiner Kritik am Marxismus nicht die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Idee des Sozialismus in Frage. Er sah es als spezifische Aufgabe der jüngeren, also seiner, Generation an, für „das Morgen und Übermorgen…neuen Boden, neues Ziel zu erstreben und zu suchen“, und so steuerte Leber, wie er selber sagte, ab 1924 „ganz behutsam auf eine Revolutionierung los, die in anderer Richtung lag „.
In einer Partei, die sich anschickte, sich programmatisch wieder stärker klassenkämpferisch zu orientieren- das Heidelberger Programm von 1925 ist dafür eindeutiger Beleg- gehörte Leber zu denen, die gegen den Strom schwimmen mussten. Das war in einer Partei, deren Stärke nicht zuletzt auf der Solidarität und Disziplin ihrer Mitglieder beruhte, ganz besonders schwierig.
Stichwort: Sozialismus und Nation
Die Abkehr vom Marxismus als Parteitheorie schloss für Leber eine Neubewertung des Internationalismus ein. So meinte Leber, dass schon vor 1914 die Internationale eigentlich nur in der „Welt der Ideale“ vorhanden gewesen sei, kaum mehr als eine „lose Zusammenfassung von einzelnen Parteien, die unter den verschiedensten Voraussetzungen und Bedingungen in verschiedenen Ländern und Nationen verwurzelt waren“.
Die deutsche Sozialdemokratie habe sich am 4. August 1914, vor die Wahl gestellt „zwischen der nationalen Wirklichkeit und dem internationalen Ideal“ für die „Nation, in der sie lebte und wirkte, die ihre Heimat war“, entschieden. Den damit verbundenen notwendigen ideologischen Klärungsprozess in den eigenen Reihen habe sie jedoch nicht eingeleitet, was sie für ihre Gegner von rechts und links angreifbar machte.
Unser Nationalgefühl beruht auf der Achtung anderer Nationen
Julius Leber
Leber musste das selbst erfahren. Als in der Lübecker Bürgerschaft über die Errichtung eines Schlageter-Denkmals diskutiert wurde (Schlageter hatte im Ruhrkampf 1923 den passiven Widerstand zu aktivem gemacht, galt danach als völkisch-nationaler Held) spitzte sich die Diskussion auf die Frage zu, wer denn von sich überhaupt behaupten dürfe, national zu sein. Man hatte in diesem Zusammenhang dem Sozialdemokraten Leber Internationalismus vorgeworfen, der hatte gekontert, dass die „deutsche Arbeiterschaft . . .mehr Nationalgefühl hat als die sogenannten besseren Stände“. Leber belegte seine Ausführungen durch den Hinweis, dass überwiegend Arbeiter in den Schützengräben des Krieges gelegen hätten. Leber sagte seinen politischen Gegnern von rechts mit aller Deutlichkeit, dass die SPD beanspruche, „tausendmal mehr Nationalgefühl zu haben als sie selbst“.
Die politische Rechte hielt dadurch den nationalen Gedanken für verunglimpft und drohte Leber. Seine eigene Partei stand Bekenntnissen zur nationalen Idee eher zurückhaltend gegenüber. Leber definierte deshalb die Vorstellung einer Idee der Nation für die Arbeiterschaft sehr vorsichtig so: „Unser Nationalgefühl beruht auf der Achtung anderer Nationen, es beruht darauf, dass jede Nation zu ihrem Recht kommt und in ihrem Land im Kreise ihrer Gerechtsamen mit ehrlichem Bemühen mitarbeitet an dem allgemeinen Weltfrieden, an der allgemeinen Weltzufriedenheit und an den allgemeinen Kulturgütern, die das Streben der Sozialdemokraten überall in der ganzen Welt sind“.
Es ging Leber darum, der eigenen Partei zu signalisieren, dass sie nicht länger Gefühlskomplexe, die „nicht über den Leisten des wissenschaftlichen Sozialismus zu schlagen“ waren, negieren dürfe. Leber war sich sicher, dass Gefühle, Stimmungen, kurz: Irrationales ein wesentliches Element menschlichen Seins sind, für das auch im Sozialismus Platz sein musste.
Dass er sich mit diesen Ansätzen, das Nationalgefühl mit dem Sozialismus zu vereinbaren, in verhängnisvolle Konkurrenz mit dem aufkommenden Nationalsozialismus begab, war Leber wohl bewusst und hat nicht dazu beigetragen, seine Überlegungen in der SPD wachsen und reifen zu lassen.
Stichwort: Staat und Republik
Den Staat als Institution uneingeschränkt zu bejahen in einer Partei, deren einer Flügel das Absterben des Staates als Zielvorstellung hatte, deren anderer Flügel auch nicht gerade staatsbejahend war, machte einen in der SPD der Weimarer Zeit zum politischen Exoten. Das wusste Leber. Deshalb versuchte er, seiner Partei ihr Defizit an Staatsbewusstsein als ein Relikt aus der Zeit des Kaiserreiches darzustellen. Er bedauerte, dass die Gegnerschaft zu diesem Staat grundsätzlich als Staatsverneinung aufgefasst wurde, sodass dadurch in der „Parteientwicklung der deutschen Arbeiterbewegung…die Kräfte auf den politischen Machtkampf nicht genügend “ vorbereitet waren.
Deshalb war die SPD 1918 der Aufgabe, die „Millionenschar ihrer Anhänger aus der agitatorischen Welt des Negativen hinüberzuführen in das wirklichkeitsfreudigere, wenn auch anspruchsvollere Feld der positiven Einstellung“, des „positiven Staatsgedankens“ nicht gewachsen. Das hielt Leber schon in den guten Jahren der Weimarer Republik für ein grundsätzliches Manko der deutschen Sozialdemokratie. 1933, in seiner in der Haft verfassten kritischen Abrechnung mit seiner Partei, merkte Leber an: „Immer wieder stößt man auf die niederdrückende Feststellung, dass in den Männern der Revolution von 1918 kein Wissen lebte von der zu errichtenden neuen deutschen Gemeinschaft“.
Der Sozialdemokrat Leber wollte der Idee der Republik „Wert und Inhalt“ innerhalb seiner Partei durch einen stärkeren Rückbezug auf freiheitliche Traditionen in der Geschichte geben, wodurch allerdings das gängige Geschichtsbild seiner Partei gesprengt wurde. So verknüpfte Leber sowohl Republik als auch Partei mit der Geschichte der freiheitlichen Bewegungen der Völker der Welt. Der „Kampf um Freiheit“, die Besinnung auf „Menschenrechte“, die Durchsetzung beider Werte in Revolutionen wie der englischen Glorious Revolution und der französischen Revolution, das war für ihn auch sozialdemokratische Tradition. In besonderer Weise sah Leber seine Partei verbunden mit der Tradition der bürgerlichen Befreiungsbewegung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In den Befreiungskriegen sei in den Deutschen erstmals die „unvergängliche Hoffnung auf Einigung aller Deutschen, auf Befreiung vom Joch der Fürstenwillkür“ aufgekeimt, beim Wartburgfest 1817 habe dann die deutsche Jugend unter den Farben Schwarz-Rot-Gold den „Schwur für Deutschlands Freiheit und Deutschlands Einheit“ getan, in Hambach 1832 sei trotz der obrigkeitlichen Verfolgungsmaßnahmen dieser Schwur erneuert worden, der 18. März 1848 sei dann das „erste Flammenzeichen“, der 9. November 1918 endlich „die Morgenröte einer neuen Zeit“ gewesen.
Das habe nur geschehen können, weil die Arbeiterschaft die 1848 durch die „Kartätschen der Hohenzollern“ zerschlagenen, im Bismarckreich aus Profitgier verratenen und verkauften Ideale des Bürgertums zu den ihrigen gemacht habe: „Heute sind es nicht mehr die Demokraten, die das Feuer von Hambach, von 1832 und 1848 schüren“, die „Tradition der Vormärzdemokratie und ihre Pflege, sie ruhen jetzt auf den Schultern des vierten Standes, in den kräftigen Fäusten der Arbeiter“. Mit der Einführung der politischen Demokratie am 9. November 1918 sei „der erste Traum des Arbeiters“ in Erfüllung gegangen, die „Grundlage hatte er sich errungen für den neuen Staat“. In der Republik konnte die Arbeiterschaft erstmals „positive Staatsgesinnung, das Sich verbunden fühlen mit dem Staat als dem Vertreter der Allgemeinheit“ entwickeln.
Der „Arbeitsmann“, so Leber, „wurde von dem Gefühl erfüllt, dass er jetzt auch teilhabe am Staat, dass die Republik auch seine Republik sei. In diesen Ansätzen „bejahender Staatsgesinnung“ zeigte sich für Leber – und hier ergibt sich eine unmittelbare Verbindung zwischen der schon dargestellten Haltung Lebers zum Nationalen – „echte und wahre Form der Vaterlandsliebe.“
Leber wusste, dass dieser vorsichtige Ansatz der Weiterentwicklung bedurfte. Keinesfalls dürfe man sich, so war er überzeugt, mit der politischen Demokratie zufriedengeben. Sie war jedoch für ihn die unabdingbare Basis, auf der weitere „neue Grundlagen für den Staat und seine Macht“ geschaffen werden mussten.
Die Sozialdemokratie hielt Leber für verpflichtet, diese Grundlagen, nämlich eine „höhere Form der Staatsgesinnung“ zu entwickeln. Leber selbst gab dazu nur Denkanstöße: Im Rahmen der Republik müsse die neue „Erscheinungsform des Strebens der Menschen nach Befreiung“ Gestalt gewinnen. An die „Stelle des Besitzes“ müsse „die Arbeit in den Mittelpunkt der Gesellschaft, des Volkes und der Nation treten“. Ziel war der „soziale Arbeitsstaat des 20. Jahrhunderts“, die „soziale Demokratie“, die „soziale Republik“, in der dann „der Arbeiter völlig Träger des Staatsgedankens“ sein werde.
Die Formulierung „soziale Demokratie“ ist uns heute als Begriff vertraut, gehört sie doch zu den Grundüberzeugungen der Sozialdemokratie, ja wirkt über die Parteigrenzen hinaus. Deutlich schwerer tat sich die Weimarer, aber auch die Nachkriegssozialdemokratie damit, das zu akzeptieren, was für den politischen Pragmatiker Leber untrennbar mit Staatsbejahung verbunden war, nämlich Machtausübung mit ganz konkreten Machtmitteln wie Polizei, Verwaltung und auch Armee.
Stichwort: Staat, Macht, Wehrfrage
Die Schwierigkeiten, ja die Unfähigkeit der Sozialdemokratie, mit Macht umzugehen, trat nach Lebers Auffassung mit besonderer Deutlichkeit im Bereich der Wehrpolitik zutage. Mit dem politischen Ende des Kaiserreiches und der „Errichtung der Republik und Demokratie“ war nicht, wie Leber kritisch anmerkte, „sozusagen automatisch Militarismus und militärische Nebenregierung“ verschwunden. Ebert hatte noch im November 1918 im sogenannten Ebert – Groener – Bündnis um einen hohen Preis die Unterstützung der Reichswehr gesucht für die neue staatliche Ordnung. Ebert hatte damit den Keim für eine Armee als Staat im Staate gelegt, was sich unheilvoll auswirken sollte.
Leber hatte eine dieser Auswirkungen, nämlich den Kapp-Putsch, als Soldat im Grenzschutz Ost selbst erlebt. Er hatte sich mit seiner ihm unterstellten Soldatengruppe mit der Regierung solidarisch erklärt, war von Kappisten deshalb festgenommen und mit Erschießung bedroht worden. Aufgrund dieser eigenen Erfahrung war auch Lebers Haltung zur Reichswehr zunächst so kritisch – ablehnend wie die der SPD. Auch für ihn war sie ein Teil der „Gegenrepublik“, sie galt ihm als monarchistisch und als „Brutnest für Putschversuche“. Erst etwa ab 1926 finden sich Hinweise auf ein positives Bemühen um die Reichswehr. Von dieser Zeit an profilierte sich Leber in seiner Partei in diesem Bereich so, dass er in die Kommission entsandt wurde, die für den Magdeburger Parteitag 1929 Richtlinien zur Wehrfrage vorlegen sollte. Bis dahin hatte die SPD, so Leber, „das verworrene Knäuel der Wehrfragen, anstatt es zu entwirren, immer vor sich hergeschoben in der Hoffnung auf eine bessere Zeit. In der Opposition kümmerte sie sich gewöhnlich überhaupt nicht um den ganzen Fragenkomplex. In der weniger bequemen Position der Regierungspartei aber zog sie sich von Fall zu Fall aus der Verlegenheit.“
Einmal war das aus der Verlegenheit – Ziehen mit besonderer Peinlichkeit verbunden, hatten doch die sozialdemokratischen Minister im Kabinett der großen Koalition unter der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Hermann Müller dem Neubau eines Panzerkreuzers zugestimmt, dessen Bau die SPD im gerade zurückliegenden Wahlkampf vehement mit der Parole „Panzerkreuzer oder Kinderspeisung?“ abgelehnt hatte. Um die Peinlichkeit voll zu machen, stimmten eben dieselben sozialdemokratischen Minister im Reichstag unter dem Druck ihrer Fraktion gegen ihre eigene Kabinettsvorlage.
Für Leber war danach klar, dass seine Partei auch in dieser Frage im „politischen Tageskampf um die Macht“ nicht länger beiseite stehen, die Reichswehr nicht aus ihren politischen Überlegungen ausklammem durfte. Wenn die Sozialdemokratie die von ihr ausgerufene und ausgebaute Republik wirklich wolle, dann sei es zwingend notwendig, dass dieser Staat in allen Teilen „getragen werde von der Liebe und Achtung der Arbeitermassen“, kurz, die Sozialdemokratie müssen entweder „Militärausgaben bewilligen oder auf jede Machtteilnahme verzichten“. Was vordergründig um „Krieg, Rüstung und Wehrprogramm“ gehe, gehe im Grunde genommen um den Staat, die Grundlage der gegenwärtigen Machtentfaltung. Vehement kritisierte Leber diejenigen unter seinen Parteifreunden, die mit der bejahenden Haltung der Parteimehrheit „zum Staat, zur Republik“ nicht einverstanden waren und den „Umweg über die gefühlsmäßig in weiten Kreisen abgelehnte Reichswehr wählten, weil sie es für taktisch falsch hielten, die Staatsfrage herauszustellen“. Für Leber war die Auseinandersetzung um die Wehrfrage vom Grundsatz her eine „Auseinandersetzung um den Staat“. Erst durch eine Klärung innerhalb der SPD würde, so meinte Leber ein gewichtiges „Passivsaldo der deutschen Sozialdemokratischen Partei“ abgebaut.
Dass diese Klärung nicht wirklich gelang, war für Leber eine große Enttäuschung. Zwar wurden die ausgearbeiteten Richtlinien in Magdeburg verabschiedet, die Änderung der Einstellung innerhalb der Partei aber gelang kaum. So gab es im Frühjahr 1931 wiederum eine Reichstagsdebatte um, wie Leber an seine Frau schrieb, den „dreimal verfluchten Panzerkreuzer“. Resigniert fügte Leber hinzu, dass es offensichtlich nicht zu verhindern sei, „dass wir jedes Jahr eine neue Wehrdebatte“ haben und sich die SPD, die immer noch „größte republikanische Partei über die Frage verzankte, ob ein Panzerkreuzer-Ersatzbau im Jahre 1931 oder erst im Jahre 1932 beginnen sollte“.
Dass sich aus Anlass dieser Auseinandersetzung die SAP als linke Gruppierung von der SPD abspaltete, mag Leber vielleicht noch als Klärungsprozess gesehen haben, aber auch bei den in der SPD verbliebenen Freunden fand er für sein ständiges Bemühen „zwischen Arbeiterschaft, Republik und Reichswehr so etwas wie ein gemeinsames Fundament herzustellen“, wenig Resonanz. Das empfand Leber auch als persönliches Versagen.