Die am 18. März 1904 in ein bildungsbürgerliches Elternhaus geborene Annedore Rosenthal verbringt ihre ersten 10 Lebensjahre in Berlin, wo ihre Familie in Wilmersdorf in der Pariser Straße 14a wohnt.1 Dort wird sie auch geboren. Sie wächst in einem geschützten Umfeld auf, wie sie selbst später berichtet: „Besonders umhütet vom Elternhaus wuchs ich in der Welt bürgerlicher Vorrechte und selbstverständlicher Privilegien auf.“2 Ihr Vater, der Pädagoge und Philologe Dr. Georg Rosenthal, unterrichtet an verschiedenen Gymnasien. 1918 wird er schließlich Direktor des altehrwürdigen Lübecker Katharineums, das im Jahr 1931 unter Rosenthal sein 400-jähriges Jubiläum feiern sollte. Thomas Mann ist als Festredner unter den geladenen Gästen. Über Annedores älteren Bruder Helmuth und ihre Mutter Auguste Bauch ist so gut wie nichts bekannt.
Annedore wächst im Schoß dieser vierköpfigen Familie in Berlin, Fürstenwalde und Lübeck auf. Sie wird von ihrem Vater zuhause unterrichtet und besucht keine öffentliche Schule. Das Abitur legt sie 1922 im Alter von 18 Jahren als Externe ab.
Studium und Ausbildung
Vor diesem Hintergrund muss die Aufnahme eines Studiums als 19-jährige in München fern von der Familie ein einschneidendes Ereignis gewesen sein. Annedore entscheidet sich für das Studienfach Jura und gerät zugleich 1923 – im Krisenjahr der jungen Weimarer Republik – in ein spannendes politisches Umfeld. Wie sie selbst in ihrem späteren Lebenslauf rückblickend schreibt, hat sie erste und damit prägende politische Erlebnisse: „Ich geriet damals in die aufgeregten politischen Debatten der Jahre 1923/24 der Münchner Studentenschaft, die selbstverständlich auf ein junges, aufnahmebereites Gemüt eine gewisse Wirkung haben mussten. Alles das, was früher schon als Zweifel gegen die bürgerliche Welt in mir aufgestiegen war, formte sich fester.“3 So gibt sie an, bei ihrer ersten Wahl 1925 – als sie das Wahlalter von 21 erreicht hatte – „links“ gewählt zu haben. Vermutlich handelte es sich um die Reichspräsidentenwahl nach dem überraschenden Tod von Friedrich Ebert. Das Frauenwahlrecht gab es erst seit 1918.
Auch beruflich rang Annedore Leber mit sich. Seit 1922 eröffnete die Aufnahme von Frauen in den juristischen Aufnahmedienst endlich den geregelten Weg zum Anwaltsberuf und Richteramt.4 Dies mag zunächst für die Wahl des Studienfaches ausschlaggebend gewesen sein, aber das Jurastudium gefiel Annedore nicht, und sie suchte nach einer alternativen beruflichen Laufbahn. Diesbezüglich war sie eine der vielen Frauen, die sich für Jura interessierten, aber das Studium abbrachen: In den 1920er-Jahren gab es tatsächlich nur sehr wenige praktizierende Juristinnen, was die großen Hürden erahnen lässt, die Frauen zu überwinden hatten. Annedore Rosenthal wendet sich mit der Abkehr vom Studium gegen den Wunsch der Eltern, wie es scheint, und tut sich daher schwer mit ihrer Entscheidung.
Im fünften Semester fällt ihr Entschluss aber endgültig, den sie in einem langen Brief den Eltern mitteilt.5 Offensichtlich unternimmt sie diesen entscheidenden Schritt erst, als sie sich ihres weiteren Weges sicher ist und einen neuen beruflichen Plan darlegen kann. Sie will Schneiderin werden und fühlt sich offensichtlich von der Modewelt angezogen. Ganz realistisch stuft sie ihre beruflichen Möglichkeiten als vielversprechender ein und begründet ihren Wunsch mit der Hinwendung zu einer praktischen Tätigkeit. Sie ist außerdem sowohl von Zweifeln bezüglich ihrer beruflichen Rolle als Frau geplagt als auch bezüglich der Finanzierung des Studiums durch die Eltern. Sie wirbt dennoch für eine mehrjährige Ausbildung zur Schneiderin, für die sie sich ebenfalls deren Unterstützung erhofft. Am 13. Mai 1925 schreibt Annedore an ihre Eltern:
„Heute, am 13. Mai, an Mutters Geburtstag, – doch sicherlich ein guter Tag – habe ich meinen Entschluss gefasst. Sollte das nicht eine gute Vorbedeutung sein. Lange – 1 ½ Jahre, das letzte ½ Jahr heftiger als es schien – habe ich mich mit diesen Gedanken getragen. Und darum ist dieser Brief Zeugnis einer wohlüberlegten Meinung.
Es ist meine ernsthafteste Überzeugung, dass es sehr schwer sein wird, dass ich mich verheirate. Warum ich das glaube, ist nicht kurz in einem Brief zu sagen. Da ich also nicht mit einer Heirat rechne, muss ich einen richtigen durchführbaren Beruf haben. Und als solcher ist für mich der des Schneiders am besten und natürlichsten geeignet. Ich werde mich durchsetzen und nicht nur als kleine Schneiderin mein Leben fristen.
Ich bin euch unsagbar dankbar, dass Ihr mir die Möglichkeit meiner Entwicklung mit den Münchner Semestern gegeben habt. Aber Ihr sagtet, sobald es mein ernsthafter Wille ist, umzusatteln, so würdet Ihr mir nichts in den Weg legen. Mein Wunsch ist groß, und mein Wille sehr ernsthaft. Verlangt bitte nicht von mir, dass ich ein juristisches Examen mache. In der Gewerbeprüfung werden mir meine juristischen Kenntnisse sehr von Nutzen sein.“6
Was die nächsten ein bis zwei Jahre genau passiert und wo sich Annedore zur „Schneiderakademie“ anmeldet, ist bislang nicht eindeutig belegt. Es lässt sich aber aus dem genannten Brief schließen, dass sie zunächst Berlin anstrebt. Die aufstrebende Modemetropole hat dort ihr Zentrum mit privaten und öffentlich betriebenen Schulen sowie großen Konfektionshäusern und der Theater- und Filmindustrie. Mit neuen Modezeitungen bot Berlin Frauen ein neues journalistisches Betätigungsfeld. Die aktuelle Mode mit neuen Schnitten und Silhouetten repräsentierte außerdem ein neues Frauenbild – zeitgenössische Illustrationen befördern es. Auch in dieser Hinsicht besitzt Berlin eine hohe Anziehungskraft für viele Frauen. Wie Annedore später schreibt, liebäugelt sie mit der Idee, „Moderedakteurin“ zu werden.7
Annedore Rosenthal begegnet Julius Leber
Im Frühjahr 1927 sollte dann aber alles anders kommen, denn sie trifft in Berlin am Schiffbauerdamm zufällig auf Julius Leber. Sie kennen sich bereits aus Lübeck, wo der SPD-Politiker und Journalist bekannt ist und 1924 in den Reichstag gewählt wird. 1933 erinnert sich Julius Leber in einem Brief aus der Haft an diese Begegnung in Berlin: „Du hast mich an den Zufall erinnert, der dich damals mit Arthur am Schiffbauerdamm meinen Weg kreuzen ließ. Ich weiß es noch wie am ersten Tag. Es schneite ganz leise, Quessel war bei mir […] Und du warst schon vorbei, da drehtest du um und kamst auf mich zu. Alles war gewiss Zufall, aber Zufall ist Schicksal.“8
Die Verlobung des Paares im Juli 1927 ist eine weitere Entscheidung Annedores, die für ihre konservativen Eltern nicht einfach gewesen sein muss. Kurze Zeit später heiratet sie am 21. November 1927 standesamtlich.9 Annedore Rosenthal ist 23 Jahre und Julius Leber gerade 36 Jahre alt geworden. In der Gertrudenstraße in Lübeck, unweit der Trave, beziehen die Lebers ein Haus. Die junge Familie wächst schnell, denn die Kinder Katharina (1929) und Matthias (1931) werden geboren.
Mit der Ehe wird Annedores Interesse an Politik endgültig geweckt. Sie „bricht“ mit der „bürgerlichen Welt“10 und wird Mitglied in der SPD. In Anspielung auf diese Entwicklung erhält sie von ihrem Mann den Spitznamen „Paulus“, den er fast ausnahmslos in seinen Briefen verwenden wird.11 Alles deutet darauf hin, dass Annedore auch bei dieser wichtigen Lebensentscheidung wohlüberlegt handelt. Aus der wohl zunächst nicht einfachen Ehe, für die sich beide Partner recht schnell entschieden hatten, entwickelt sich im Lauf der Jahre eine Schicksalsgemeinschaft.
So sehr Annedore gegen das bürgerliche und akademische Milieu ihres Elternhauses mit zwei richtungsweisenden Entscheidungen rebelliert, eine Revolutionärin wird sie, der zeitlebens ein Sinn für Eleganz und Mode nachgesagt wird, durchaus nicht. Aber sie hatte gelernt, sich für ihre Sache einzusetzen und nicht nachzugeben.
Ihre Meisterprüfung als Schneiderin kann sie erst 1935 abschließen, dennoch hatte sie offenbar schon vorher genug Erfahrung in ihrem Beruf gesammelt, um ab 1933 ihre Familie mit einem Modeatelier erfolgreich ernähren zu können, nachdem Julius Leber inhaftiert worden war und sie wirtschaftlich vor dem Nichts steht. Annedore Lebers berufliche Entscheidung von 1925, um die sie lange gerungen hatte, stellt sich als richtig, wenn nicht sogar überlebenswichtig heraus.
Dörte Döhl
Fußnoten
1 Vor dem Haus befindet sich heute eine Gedenktafel.
2 Lebenslauf Annedore Leber, Nachlass Julius und Annedore Leber, in: BArch Koblenz, N 1732; zu Annedore Leber siehe auch: Frauke Geyken: Wir standen nicht abseits. Frauen im Widerstand gegen Hitler, München 2014, S. 28-30
3 Ebenda
4 Juristinnen in der Weimarer Republik, siehe: LeMO Weimarer Republik, online: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/juristinnen-in-der-weimarer-republik.html
5 Brief von Annedore Rosenthal an die Eltern, 13.05.1925, Nachlass Julius und Annedore Leber, in: BArch Koblenz, N1732/59
6 Ebenda
7 Siehe Lebenslauf Annedore Leber, wie Fußnote 1
8 Brief von Julius Leber an Annedore Leber, 11.07.1933, publiziert in: Dorothea Beck: Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand, Berlin 1983, S. 250-252, S. 251
9 Vgl. Beck (wie Anm. 8), S. 105, S. 352, Anm. 25
10 Siehe Lebenslauf Annedore Leber, wie Fußnote 1
11 Die Briefe sind veröffentlicht in: Beck (wie Anm. 8)