Der prächtige Plenarsaal im Berliner Kammergericht ist mit 180 Menschen voll belegt. Und viele, die zum ersten Mal hier sind, erkennen den Raum aus den Fotos der Prozesse vor dem Volksgerichtshof. Hier stand Julius Leber – auf den Tag genau vor 80 Jahren am 20. Oktober 1944 – Gerichtspräsident Roland Freisler gegenüber. Der Arbeitskreis Lern- und Gedenkort Annedore und Julius Leber erinnert mit der Veranstaltung Vom Sondergericht zur Justiz der Bundesrepublik – Brüche und Kontinuitäten an diesen Schauprozess. Das ist die dritte Veranstaltung in der Reihe Leben für die Demokratie.
Die Vorsitzende des Stadtteilvereins Martina Fiebelkorn eröffnet die Veranstaltung, dann stellt Angelika Schöttler (ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof Schöneberg und Mitglied im Arbeitskreis) die Referenten vor: Prof. Dr. Johannes Tuchel, den Direktor der Gedenkstätte deutscher Widerstand und Dr. Bernd Pickel, Kammergerichtspräsident a.D.
Prof. Tuchel erinnert daran, dass die meisten Mitglieder der Widerstandsgruppe um den 20. Juli im Saal des Kammergerichts verurteilt wurden. Beim Prozess am 20. Oktober 1944 werden mit Julius Leber auch Adolf Reichwein, Hermann Maß und Gustav Dahrendorf angeklagt. Das Verfahren gegen Ewald Loeser, der mit auf der Anklageschrift stand, wird abgetrennt.
Die Ladung zur Verhandlung wird am 18. Oktober ausgestellt, den Angeklagten demzufolge erst ein Tag vor der Verhandlung zugestellt. Ob Lebers Rechtsanwalt Boden am Tag vor der Verhandlung mit Leber spricht, oder ihn erst bei Verhandlung kennen lernt, wissen wir nicht.
Richter sind Roland Freisler, zweiter Richter Paul Lämmle, auch drei ehrenamtliche Richter sitzen dabei. Die Anklage vertritt Oberstaatsanwalt Gerhard Goerisch. Freisler führt die Verhandlung aggressiv und unterbindet Äußerungen der Angeklagten zu den Anklagepunkten nach Berichten von Gustav Dahrendorf oft mit wüsten Beschimpfungen.
Auf den Fotos des Prozesses sieht man, dass der Saal voller Menschen war: Polizisten, SS-Männer, Journalisten, Interessierte – auch der spätere Bundeskanzler Helmut Schmid war bei einigen Prozessen dabei. Die Aufnahme machten professionellen Fotografen. In ihnen erkennt man die stolze Würde der Angeklagten. Diese Fotos sind nach Tuchel fast ikonisch. Annedore Leber veröffentlichte sie nach dem Krieg in ihren Büchern zum Widerstand, auch in Schulbüchern wurden sie abgedruckt.
Angeklagt sind Leber, Reichwein und Maaß wegen versuchtem Umsturz, also Hoch- und Landesverrat. Dahrendorf wegen Nicht-Anzeige dieser Pläne. Freisler verhört Leber über eine Stunde langt. Der Journalist Paul Sethe, der für den Völkischen Beobachter die Prozesse beobachtete, erinnert sich nach dem Krieg. „Das Verhör dauert vielleicht eine Stunde oder zwei, man weiß es nicht, … immer deutlicher senken sich die Schatten des Todes über Julius Leber herab – aber die Stimme da vorn bleibt ruhig, gleichmäßig und gelassen wie am Anfang. Kein Zittern in den Worten, keine Unsicherheit in der Aussage, kein zu schnelles und kein zu langsames Wort, kein Zeichen, dass Julius Leber den Mann da vorn fürchtet. … Mit einem leisen und sehr höflichen: ‚Das ist ein Irrtum Herr Präsident…‘ oder ‚Sie irren sich wieder einmal, Herr Präsident…‘ zerstört Julius Leber die Wirkung des drohenden Pathos seines großen Gegners.“
Und Gustav Dahrendorf, der als einziger der Angeklagten überlebt, erinnerte sich: Die Plädoyers der Verteidiger von Dr. Leber und Hermann Maß waren von erregender Kürze und nichts als eine vage Andeutung formalrechtlicher Notwendigkeit. Beispielsweise beschränkte sich das Plädoyer des Offizialverteidiger von Dr. Leber, Rechtsanwalt Boden auf einen Satz … : ‚Mein Mandant ist sich über die Schwere seines Verbrechens im klaren. Ich bitte um eine entsprechendes Urteil.’“ Boden arbeitet nach dem Krieg in West-Berlin wieder als Rechtsanwalt und Notar.
Leber Reichwein und Maaß werden wegen Hoch- und Landesverrat zum Tode verurteilt, ihr Vermögen fällt ans Reich. Dahrendorf wird zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Prozess ist wohl gegen Mittag zu Ende. Reichwein und Maaß werden direkt danach ins Gefängnis Plötzensee gebracht und sofort hingerichtet. Der Henker muss wohl schon vor dem Prozess bestellt worden sein. Leber bleibt im Hausgefängnis der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße interniert, wo ihn seine Frau Annedore noch mehrmals besucht. Er wird am 5. Januar 1945 ebenfalls in Plötzensee erhängt. Sein Leichnam wird im Krematorium Wilmersdorf verbrannt, seine Asche vermengt und in einem Pappkarton ins Reichsjustizministerium gebracht. Ihr weiterer Verbleib ist unbekannt. (Mehr zu Julius Lebers letzen Lebensmonaten)
Prof. Tuchel sagt am Ende: Diese drei erfahrenen Sozialdemokratischen Politiker haben uns in der Nachkriegszeit beim Aufbau eines demokratischen Deutschlands gefehlt.
Das Kammergericht und der Volksgerichtshof
Dr. Pickel wählt eine sehr persönliche Herangehensweise zu seinem Thema und beschreibt eigene Erfahrungen und Eindrücke als Bürger, junger Jurist und später als Richter in Berlin in drei Phasen.
Die erste Phase bis zum Fall der Mauer erlebt er als Jura-Student und junger Richter. Es ist ein Zeitraum mit intensiven Diskussionen über Kontinuität und Brüche von den Sondergerichten bis zur Justiz der Nachkriegszeit. Der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger ist ein Beispiel dafür, dass es vor allem um das Handeln einzelner Personen geht. Seine Rolle als Militärrichter kostet in letztlich sein Amt.
Aber zu der Zeit gibt es wenig Fragen nach Beziehungen zwischen Volksgerichtshof und der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach dem Krieg. Dahinter steht der Gedanke, dass es in der NS-Zeit eben normale unbelastete Gerichte und belastete Sondergerichte gab. Im Gebäude des Kammergerichts hat der Alliierte Kontrollrat seinen Sitz, das Kammergericht ist zu der Zeit in der Witzlebenstraße in Charlottenburg. Deshalb ist auch der Bezug zum Volksgerichtshof weniger auffällig.
In der zweiten Phase, die Dr. Pickel von 1992 bis 1999 ansetzt, zieht das Kammergericht wieder in das alte Gebäude und die Verbindung zum Volksgerichtshof wird augenscheinlich. Besucher fragen nach dem Freisler-Saal, Angehörige sind erschüttert, wenn sie zum ersten mal den Raum sehen, in dem ihre Männer oder Väter verurteilt wurden. Verbindungen zum Volksgerichtshof werden erforscht und festgestellt, dass es vom Kammergericht abgeordnete Richter am Volksgerichtshof gab.
In der dritten Zeitphase regt Dr. Pickels Vorgängerin Monika Nöhre Forschungsarbeiten zur Beteiligung des Kammergerichts an der NS-Schreckensjustiz an. Ihr ist es zu verdanken, dass das Buch von Hans Bergemann und Simone Ladwig-Winters: Jüdische Richter am Kammergericht nach 1933 erscheint. Er hebt Johannes Tuchels Forschung und Veröffentlichung über die Todesurteile des Kammergerichts hervor. Darunter Todesurteile für Witze über Adolf Hitler oder das Hören von Feindsendern. Dr. Pickel kommt zum Schluss, dass auch das Kammergericht Justizmorde begangen hat und sich auch sprachlich die Urteile nicht von den Urteilen der Sondergerichte unterscheiden. Für ihn schwere Erkenntnisse, da er ja mit Stolz ins Kammergericht eingetreten ist.
Diskussion
Auf Fragen aus dem Publikum gibt Prof. Tuchel die Auskunft, dass die Urteile des Volksgerichtshofes erst 1998 aufgehoben wurden. Ab 1952/53 konnten Entschädigungen beanstragt werden.
Zur aktuellen Frage nach politischem Einfluss bei der Besetzung von Gerichten sieht Dr. Pickel das föderative System und die paritätische Besetzung von Richterwahlausschüssen als guten Schutz gegen die einseitige Übernahme durch eine Partei. Auch die Auswahlmöglichkeit aus mehreren Kandidaten sieht er als gutes Instrumentarium um auch unter veränderten politischen Bedingungen fachlich geeignete Kandidaten als Richter zu bestellen. Prof. Tuchel gibt ihm verfahrensmäßig Recht, ist aber froh, dass inzwischen der Bundestag überlegt, wie die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet werden kann. Landesregierungen sollten prüfen, ob unsere Verfahren gegen totalitäre Gefahren gefeit sind.
Hinweise auf die höhere Pension für die Witwe Roland Freislers, die eine hypothetische Beförderung ihres Mannes zur Grundlage hatte, sieht Prof. Tuchel in der Kontinuität in Verwaltung aber auch in der Bevölkerung in den 1950er-Jahren. Die Witwen der Täter waren erheblich besser gestellt als die Angehörigen von Menschen im Widerstand.
Auch nach den Erfahrungen unserer Gesellschaft im Umgang mit Justizunrecht in zwei Dikataturen, der NS-Zeit und der DDR wird gefragt. Erfahrungen aus Nachkriegszeit wurden auf die Zeit nach 1990 übertragen, um Fehler zu vermeiden. Aber Prof. Tuchel sieht auch, dass dabei der Rechtsstaat an seine Grenzen kommt. Aus dem Publikum kam dazu die Anmerkung, dass die Auseinandersetzung mit NS- und DDR-Unrecht in der Juristenausbildung erfolgen muss. Das müssen Länder umsetzen.
Danach wurde bei einem kleinen Imbiss vor dem Plenarsaal rege weiter diskutiert.